Endlich ist unser Fotobuch „Fokus | Gewalt“ bei uns eingetroffen.
Fotos: Sulamith Sallmann
Konzept: Enkidu rankX
Es kann für 8 Euro über meine Email: sulamithsallmann [at] web [dot] de bestellt werden.
FOKUS | GEWALT
Die Portraitserie FOKUS.GEWALT der Berliner Fotografin Sulamith Sallmann ist eine künstlerische Meditation, die in ihrer prozesshaften Annäherung an ein komplexes Phänomen die (Er-) Lebenswirklichkeit individueller Gewalterfahrung abbilden und verstehen möchte. Gewalt als ‚elementare Kraft von zwingender Wirkung’ ist erst einmal wertfrei zu betrachten. Diese schlummernde, oft verdrängte Macht / Kraft sichtbar zu machen ist allein schon ein künstlerischer Akt der Gewalt – sind nicht die meisten Menschen ihr gegenüber erst einmal ablehnend eingestellt, wollen ihre Gewalterfahrungen bzw. ihr Gewalterleben verdrängen oder zumindest verbergen. Dabei ist der rein pejorative Aspekt dieses Begriffes nur die halbe Seite der Medaille. Seien wir ehrlich, wenn die Gewaltmonopol innehaltenden Institutionen (i.e. die Polizei) zum Schlichten eines eskalierenden Streits erscheint und, in letzter Konsequenz auch mit durchgreifender Gewalt, die Situation entschärft, um größeren Schaden zu verhindern, dann sind wir dankbar und oft auch erleichtert. Gewalt ist einer der fundamentalsten Triebe unserer menschlichen Existenz und diese Tatsache wird sich so schnell nicht ändern lassen, wenn überhaupt. Der im Titel verankerte künstlerische Prozess, umgesetzt im lokal-personellen Nexus des Mikrokosmos Gartenstadt Atlantic und unterstützt durch das Projekt “junge-lichtburg”, verläuft hier folgendermaßen: zunächst Fokussierung, d.h. Konzentration, die Bereitschaft für das Einlassen auf das Thema schaffen. Durch den vollkommenen Verzicht auf Dramaturgie – die Inszenierung von Licht und Hintergrund ist immer gleich, die Kamera immer genau auf Augenhöhe der Protagonisten, die Anweisung an diese sich möglichst neutral, aber auch möglichst präsent in das Objektiv zu projizieren – wird eine Gleichbehandlung der Porträtierten erreicht. In diesem laborhaften Versuchsaufbau wird Stück für Stück die offensichtliche soziale Maske abgetragen um zum etwaigen Kern der Person vorzudringen. Dabei ist die Arbeit nicht ausschließlich auf Seiten der Fotografin. Auch die Fotografierten müssen die Bereitschaft mitbringen, sich einzulassen, die Larve alltäglicher Gefälligkeit fallen und sich auf den Grund der Seele blicken zu lassen. Dieses Schauen hinter die Persona, wie die moderne Psychologie die Maske nennt, erreicht die Künstlerin durch einen technischen Kunstgriff: sie nutzt eine analog-optische Verfremdung in Form einer speziellen Anordnung von Vorsatzlinsen, um eine de-fokussierte, von optischen Aberrationen verzeichnete Ästhetik auf das Bild anzuwenden. Und gerade durch diese Verzeichnung gelingt es der Künstlerin nach eigenen Worten die „Schärfe des Charakters“ herauszubilden. Diese übrig gebliebene Abstraktion, quasi der „Grundriss eines Gesichts“ lässt hinter die Fassade unseres sozial konstruierten Ichs blicken.
Diesem sinnlich-introspektiven Moment nachfolgend, schließt sich der 2. Teil des Prozesses an: das Sich-einlassen auf das gefühlte Erleben von Gewalt. Den Protagonisten werden in einem intimen und geschützten Raum drei immer gleichlautende Fragen gestellt:
Was ist für dich Gewalt?
Was fühlst du, wenn du an Gewalt denkst?
Teile mit uns ein persönliches Erleben von Gewalt.
Der Verlauf der Interviews mit mehr als 60 Personen allen Alters und jeglicher Herkunft und
sozialer Stellung fördert Erstaunliches zutage. Jenseits der 3 klassischen Verhaltensmuster Fight, Fright & Flight (also Kampf, Erstarren bzw. Flucht) offenbart jeder ein ganz individuelles Erleben und Erfühlen von Gewalt. Oft, aber nicht immer von Angst oder Abscheu geprägte Positionen, die aufs Äußerste differenziert die ganze Bandbreite menschlicher Emotion abbilden. Von Ekel ist die Rede, von Scham und Grenzüberschreitung; aber auch von Wut und Abscheu; von Furcht, von Kraft, von Energie, Überwältigung oder gar Kontrollverlust. Klar ist: die meisten Probanden versuchen ihr aus dem Weg zu gehen, sie zu meiden, gar und ganz ohne sie auszukommen. Doch sind sich die meisten auch einig, dass dies in der Welt, in der wir leben, aussichtslos ist. Gewalt ist ein Fakt, den wir nicht dadurch beseitigen können, indem wir ihn ignorieren. Es gibt Momente, in denen man dies nicht vermag oder in denen das nicht die moralisch-ethisch richtige Verfahrensweise ist. Sinnlose, plumpe körperlich-psychische Gewalt ist schlecht und zu vermeiden, darin sind sich alle einig. Doch gibt es legitime Formen der Gewaltausübung? Gibt es Momente wo, z.B. zum Schutze eines Opfers eine Antwort mit Gewalt nötig wird? Sind wir überhaupt in der Lage, ihr immer, so sehr wir das auch möchten, aus dem Weg zu gehen? Sehen wir nicht manchmal „rot“ und reagieren gewaltsam, nur um es später zu bereuen? Wie stark ist unsere Kontrolle über dieses manchmal übermächtige Gefühl der Wut und des Wunsches, dieser Wut Ausdruck zu verleihen? All diese Fragen und noch andere vielschichtige Aspekte wurden im Zuge der Interviews aufgeworfen und zurück an den Fragenden gerichtet. Die Künstlerin selbst war erstaunt über die Bandbreite der Reaktionen und Standpunkte. Es dominieren die Beschreibungen der Opferrolle; des negativen, nicht zu rechtfertigenden Erlebens von Gewalt am eigenen oder fremden Leib, bzw. der Seele. Doch mischen sich auch andere Stimmen in diesen Chor. Zum Beispiel die Ohnmacht und das Entsetzen angesichts realisierter oder zumindest angedachter Bereitschaft der eigenen Gewaltausübung. Hat man wirklich alles unter Kontrolle? Und auch wenn ein klares Nein zur Gewalt bei allen gleichsam Tenor ist, so scheint eine differenzierte Bewusstheit, auch differenziertere Haltungen hervorzubringen. Hier kommen komplexere Handlungsstrategien zum Tragen, solche die Verständnis, mitunter sogar Vergebung für den Täter mit einschließen. Die von Religionen oft eingeforderte Antwort, auf Gewalt, mit Verständnis und sogar Liebe zu reagieren (so wie in der Bergpredigt) wird hier ganz undogmatisch nachempfunden und erlebt. Auch die Frage, wer den ersten Stein werfe, ist Teil des breiten Fächers an Antworten, die im Zusammenhang der Interviews gegeben wurden. Der Prozess selber stellt sich schlussendlich als genauso wichtig wie das künstlerische Resultat heraus. Alle Teilnehmenden haben sich für einen Moment (auch) der (eigenen) Gewalt gestellt, sich selbst hinterfragt, in sich hinein geschaut und gelauscht. Dies ist eine wesentliche Absicht hinter dieser Arbeit: das Fokussieren auf sich selbst; die den Fragen: was ist für mich Gewalt, wie erlebe ich sie und wie kann ich mich ihr gegenüber verhalten, zu stellen, ist der notwendige Beginn einer bewussten Auseinandersetzung, die als conditio si ne qua non für die Vermeidung ungerechtfertigter Gewalt begriffen werden kann.
Text: Ch. Leyendecker